OTTO BUCHEGGER ERZÄHLT

Tschinagler, ein Wort, das ich fast vergessen hatte. Es war in meiner Jugend in Linz (Hauptstadt von Oberösterreich) sehr gebräuchlich und damit wurden die Schwerstarbeiter in der Stahlindustrie bezeichnet, also in der VÖEST, wie sie damals noch hieß. In Deutschland kommen die Begriffe Maloche oder Bergmannkumpel aus dem Ruhrgebiet dem noch am nächsten.

Meist kamen die Tschinagler, auch Tschineuler oder Tschineller ausgesprochen, aus dem ländlichen Umland von Linz, besonders aus dem nahen Mühlviertel. Es war gut angebunden, man konnte täglich pendeln. Es waren durchwegs kräftige Männer und ich - als oft kränkliches, sehr schlankes Kind - hatte einen Riesenrespekt vor diesen Hacklern, wie man sie auch nannte. Als Schüler hatte ich schon einmal einen Sommer in der VÖEST gearbeitet und so hautnah mitgekriegt, wie gefährlich und anstrengend es dort sein konnte. Aber die Bezahlung war gut und die jungen Kerle haben damit oft geholfen, zur schlecht bezahlten Landwirtschaft etwas dazu zu verdienen.

Das Ganze wäre heute nicht mehr erwähnenswert, wenn nicht auch ein naher Verwandter meiner Mutter mir die ganze Problematik persönlich nahe gebracht hätte. Er war ein lediges Kind ihrer Schwester und sie hatte eine besondere Beziehung zu diesem jungen Mann. Quasi als Ersatzmutter für die Zeit, in der er in Linz war. Nennen wir in Rudl. Rudl war nicht in der VOEST tätig, sondern als Bauarbeiter in einem anderen großen Unternehmen. Schwere Arbeit gab es auch da genug.

Er war nicht nur überaus kräftig, sondern auch hochintelligent und tüchtig, es fehlte ihm nur die Schulbildung für eine bessere Arbeit. Es war das erste Mal, dass ich mit diesem Problem persönlich konfrontiert war. Ein sichtbares Zeichen für seine Tüchtigkeit war, dass er fast alleine mit seiner Hände Arbeit und Fleiß ein Haus für seine spätere Familie gebaut hat. Und es war ein ordentliches Haus, nicht groß, aber groß genug für sie.

Manchmal hat er bei uns übernachtet, wenn es am Abend spät wurde und der eine Stunde lange Pendelweg für ihn nicht mehr zu schaffen war. Er war so müde, dass er nach dem Abendessen nur die Schuhe ausgezogen hat sich in voller Kleidung auf die Couch in der Küche gelegt hat und so tief geschlafen hat, dass ihn nichts mehr gestört hat. Und dann war er am frühen Morgen (die Bauarbeiter haben im Sommer meist schon 6h zu arbeiten begonnen), wenn ich aufgestanden bin, schon wieder weg gewesen. Und diese Erschöpfung war offenbar häufiger der Fall. Ich habe so in jungen Jahren gelernt, dass das Schicksal schlecht ausgebildeter Menschen für mich nicht erstrebenswert war.

Rudl war ein überaus liebenswerter Mensch. Mir persönlich hat er eine Riesenfreude gemacht, weil er einen Sommer lang mir als Student sein Puch Moped zur Verfügung gestellt hat und ich damit in Stadtnähe von Linz als Vermessungshelfer arbeiten konnte. Was ich bei ihm, wie später auch bei anderen gefährlichen Berufen geschätzt habe, das waren extreme Verlässlichkeit und auch ein großer Zusammenhalt und Hilfsbereitschaft unter Kollegen. Beides wurden für mich später auch Auswahlkriterien, wenn ich neue Mitarbeiter eingestellt habe.

Nachdem ich aus Österreich weggezogen war, haben wir uns aus den Augen verloren. Er hat aber mein Leben sehr bereichert und ich danke ihm für viele Einsichten aus einer Arbeitswelt, die mir damals persönlich fremd war.

Die Tschinagler gibt es heute bei uns nicht mehr. Maschinen haben ihre Arbeit übernommen und viele Sicherheitseinrichtungen haben sogar früher extrem gefährliche Berufe, wie Waldarbeiter, Bergarbeiter oder Tunnelbauer, sicherer gemacht. Das ist die positive Seite daran. Auf der anderen Seite aber haben Menschen, die im wesentlichen nur über ihre Körperkraft verfügt haben und auch stolz darauf waren, ihre Arbeitsplätze verloren.

Ich frage mich, wie das weitergehen soll. Es ist absehbar, dass auch heute noch angesehene Berufe, wie Bankiers, durch Maschinen und Algorithmen ersetzt werden. Dabei wird es in dieser Branche noch relativ leicht sein, alternative Geschäftsmodelle zu finden. Aber was ist z.B. mit den Fahrern von Automobilen und LKWs, die durch selbstfahrende Fahrzeuge abgelöst werden? Da fällt mir keine gute Antwort mehr ein.

Dass ich ratlos bin, ist sicher kein Problem, aber ich sehe auch sonst niemanden, der sich um die Zukunft der Arbeit kümmert. Das müsste doch ein Thema im Bundestagswahlkampf 2017 gewesen sein. Leider alles Fehlanzeige.

Freude zum Schluss

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